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2020: Ein Jahrzehnt zur Wiederentdeckung unserer Menschlichkeit

Greg Satell
February 5, 2020

Greg Satell, Autor, Redner und Innovationsberater

Es gibt einige Vorhersagen über die Herausforderungen, denen wir uns in naher und ferner Zukunft stellen müssen. Doch im Moment stehen wir am Rande dessen, was manche Visionäre als das revolutionärste Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit bezeichnen. Die Welt könnte in den nächsten 25 Jahren ihren ersten Billionär haben, und doch geht einer von neun Menschen abends hungrig ins Bett. Darüber hinaus verdient laut Erhebungen von Oxfam jeder Zehnte von uns noch immer weniger als 2US?Dollar am Tag. In der Geschäftswelt finden sich unzählige Beispiele von Unternehmen und Branchen, die entweder daran gescheitert sind, sich an die Auswirkungen anzupassen, die disruptive Technologie, Verbraucherverhalten und globale Trends auf ihre Umgebung haben, oder diese völlig ignoriert haben.

Heute befinden wir uns an einem ähnlichen Scheideweg, sagt Innovationsberater Greg Satell. Die Entscheidungen, die wir in den nächsten zehn Jahren treffen, werden laut Satell schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Zukunft haben. Werden wir uns dafür entscheiden, unseren Technologien die Kontrolle zu überlassen oder gewisse Grenzen einrichten, um sicherzustellen, dass wir die Kontrolle behalten? Werden wir die Lücken durch wirtschaftliche Ungleichheiten wie das Einkommensgefälle schlieflen oder den Status quo beibehalten?Greg Satell empfiehlt, unsere Prioritäten noch einmal zu überdenken. (Der folgende Artikel ist eine genehmigte Neuveröffentlichung und unterliegt dem Copyright von@Digitaltonto):

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, wie die Welt vor genau einem Jahrhundert aussah. Im Jahr 1920 waren die disruptiven Technologien von damals, Elektrizität und Verbrennungsmotor, bereits beinahe 40 Jahre alt, hatten jedoch kaum messbare wirtschaftliche Auswirkungen. Für die meisten Menschen ging das Leben seinen gewohnten Lauf, und wenig deutete darauf hin, dass sich Bahnbrechendes ereignet hatte.

Im Laufe des nächsten Jahrzehnts allerdings sollte sich das ändern. Mit der Bildung von ÷kosystemen rund um die neuen Technologien stieg die Produktivität und der Lebensstandard verbesserte sich drastisch. Doch das bedeutete nicht nur Gutes. Während der technologische Fortschritt das Leben der Menschen besser machte, machte er auch Krieg und Völkermord in einem nie dagewesenen Ausmafl möglich.

Heute sind wir wahrscheinlich an einem ähnlichen Punkt angekommen. Aufkommende Technologien haben das Potenzial, eine neue ƒra der Produktivität, aber auch schrecklicher Destruktivität, einzuläuten. Zu oft vergessen wir, dass Technologie dem Menschen dienen sollte und nicht umgekehrt. Damit es da keine Missverständnisse gibt: Dies ist kein Problem, das wir durch Innovation beheben können. Keine Technologie wird uns davor retten. Wir müssen bessere Entscheidungen treffen.

Das Ende des mooreschen Gesetzes: Der ‹bergang in eine neue ƒra der Innovation

In den letzten Jahrzehnten ist Innovation fast gleichbedeutend mit digitaler Technologie geworden. Seit wir gelernt haben, immer mehr Transistoren auf einem Silizium?Wafer unterzubringen, hat sich der Fokus in Richtung Design und Verbrauchererlebnis verschoben. Die Geschwindigkeit des Geschäfts nahm zu und Agilität wurde zu einem elementaren Wettbewerbsmerkmal. Strategie und Planung sind Experimenten und Iteration gewichen.

Der Erfolg risikokapitalgestützter Unternehmer führte zu grofler Arroganz und schliefllich zum Mythos, dass das Silicon Valley irgendwie ein Modell gefunden hatte, das man auf jedes Problem in jeder Branche und in jedem Zusammenhang anwenden könnte. Mit den extrem guten Bewertungen von Technologieunternehmen entstand ein neues Gefühl des technologischen Libertarismus, durch den viele begannen, Algorithmen über menschliches Urteilsvermögen zu stellen.

Doch heute stöflt man aus zwei Gründen an Grenzen. Erstens ist unsere Fähigkeit, immer mehr Transistoren auf einem Silizium-Wafer unterzubringen, allgemein als mooresches Gesetz bekannt, an ihrem Ende angelangt. Zweitens erkennen wir inzwischen, dass der technologische Fortschritt eine dunkle Seite birgt. Zum Beispiel ist künstliche Intelligenz anfällig für Manipulation und soziale Medien können einen negativen psychologischen Effekt haben.

Zur gleichen Zeit stehen wir am Beginn einer neuen ƒra der Innovation, die durch neue Rechnerarchitekturen angetrieben wird, wie z.B. durch quantenbasierte und neuromorphe Computersysteme sowie revolutionäre Veränderungen in synthetischer Biologie, Materialwissenschaft und maschinellem Lernen. Dies erfordert einen viel kollaborativeren, multidisziplinären Ansatz. Das kann niemand alleine bewältigen.

Ein neues ethisches Universum

Am 16.Juli1945 erschütterte die weltweit erste Atomexplosion New Mexico.J.RobertOppenheimer, der das Team von Wissenschaftlern leitete, das die Atombombe entwickelte, zitierte zu diesem Anlass die Bhagavad Gita. "Jetzt bin ich zum Tod geworden, dem Zerstörer der Welten", sagte er. Es war klar, dass wir damit eine moralische rote Linie überschritten hatten.

Viele der Wissenschaftler zu Oppenheimers Zeit wurden Aktivisten und setzten ein Manifest auf, in dem die Gefahren von Atomwaffen hervorgehoben wurden, was den Weg zum Moskauer Atomteststoppabkommen mit bereitete. Das digitale Zeitalter hingegen zeigt wenig von dieser Ehrfurcht vor der Kraft und den Gefahren des technologischen Fortschritts. Tatsächlich hat die Ingenieurskultur des Silicon Valley moralische Urteile über ihre Erfindungen gröfltenteils von sich gewiesen.

Heute jedoch, da unsere Technologien fast unvorstellbare Leistungen erbringen, müssen wir uns zunehmend entscheidenden ethischen Dilemmas stellen. So kommen beispielsweise beim Einsatz künstlicher Intelligenz einige Fragen auf: Wer ist verantwortlich für Entscheidungen, die von einer Maschine getroffen werden, wie entscheiden wir, was und wie Maschinen lernen sollen?

Oder denken Sie an CRISPR, eine Technologie zur Genom?Editierung, die die Life?Science?Branche revolutioniert und das Potenzial hat, gravierende Erkrankungen wie Krebs und Multiple Sklerose zu heilen. Wir haben bereits gesehen, welche Probleme Hacker mit Computerviren verursachen können. Wie würden wir mit Hackern umgehen, die neue biologische Viren erzeugen?

Es gab allerdings einige ermutigende Entwicklungen. Die meisten groflen Technologieunternehmen haben sich mit der ACLU, UNICEF und anderen Interessengruppen zusammengeschlossen, um die Partnership On AI zu bilden und ein Forum zu schaffen, das ethische Standards für künstliche Intelligenz entwickeln kann.Salesforce hat zu diesem Zweck einen Chief Ethical and Human Use Officer eingesetzt. Die CRISPR?Pionierin Jennifer Doudna hat eine ähnliche Initiative am Innovative Genomics Institute in Gang gesetzt. Aber das darf nur der Anfang sein.

Die Herausforderung des populistischen Autoritarismus

Es erscheint passend, dass der Fall der Berliner Mauer und die Schaffung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee im selben Monat geschahen, und zwar im November 1989. Was folgte, war eine Zeit des groflen Optimismus, in der sowohl Informationen als auch Menschen nie dagewesene Freiheit genossen. Das Doppelgespann aus Technologie und Globalisierung schien unaufhaltsam.

Auf der ganzen Welt trieben die Technokraten der freien Marktwirtschaft eine Art des Marktfundamentalismus voran, die als Washington-Konsensbekannt ist. Für Kredite mussten Entwicklungsländer harte wirtschaftliche Maflnahmen auf sich nehmen, die in westlichen Industrienationen niemals akzeptiert worden wären. In den Industrieländern verloren die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber denen der Unternehmen an Boden.

Diese Politik führte zu echten Erfolgen. Hunderte Millionen wurden aus der Armut befreit. Freier Handel und Reiseverkehr nahmen zu. Dank des technologischen Fortschritts konnte sogar ein relativ armes Kind in einem armen Land, solange es über eine Internetverbindung verfügte, auf dieselben Informationen zugreifen wie ein wohlhabender Spross, der an einer elitären Ivy?League?Universität studiert.

Dennoch haben der technologische Fortschritt und die Globalisierung uns in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Die Einkommensungleichheit hat den höchsten Punkt der letzten 50 Jahre erreicht. In den meisten Branchen konzentriert sich die Macht zunehmend auf lediglich eine Handvoll Unternehmen. In Amerika gehen soziale Aufstiegsmöglichkeiten und die Lebenserwartung in der weiflen Arbeiterschicht zurück, während Angststörungen und Depressionen epidemische Ausmafle erreicht haben. Offensichtlich wurden zu viele Menschen abgehängt.

Vielleicht ist es dann keine ‹berraschung, dass wir einen globalen Anstieg des populistischen Autoritarismus beobachtet haben, der die Regierungsformen dramatisch gegen die Art von offener Politik verschoben hat, die Globalisierung und technologischen Fortschritt erst auf den Weg gebracht hat. Das Pendel ist zu weit geschwungen. Wir müssen unsere Energie wieder von Technologien und Märkten zurück auf die Menschen fokussieren, denen sie dienen sollen.

Wir sind die Entscheidungen, die wir treffen

Die Probleme, die wir heute haben, mögen unbekannt und überwältigend scheinen, doch wir waren schon einmal an diesem Punkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schwankte die Welt zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus. Neue Technologien, wie Atomkraft, Antibiotika und Computer stellten nie dagewesene Möglichkeiten und Herausforderungen dar.

Doch im Angesicht der Zerstörung, die der Krieg mit sich gebracht hatte, wurde ein völlig neues internationales System geschaffen. Die Vereinten Nationen boten eine Plattform, um Konflikte friedlich beizulegen.Das Bretton?Woods?Modell stabilisierte das globale Finanzsystem. Die Schaffung des Wohlfahrtsstaates trug dazu bei, die härteren Auswirkungen der Marktwirtschaft zu mildern, und ein stärkerer Schutz der Arbeitskräfte trug zum Aufbau einer lebendigen Mittelschicht bei. Waffenabkommen reduzierten das Risiko eines Armageddon.

Heute befinden wir uns an einem ähnlichen Scheideweg. Wir sind bei der Schaffung eines neuen technologischen Zeitalters dabei, inmitten eines politischen Schlüsselmoments. Die Entscheidungen, die wir in den nächsten zehn Jahren treffen, werden Auswirkungen auf das gesamte kommende Jahrhundert haben. Werden wir unseren Technologien dienen oder werden sie uns dienen? Werden wir eine neue globale Mittelklasse schaffen oder einer globalen Elite die Treue schwören?

Eines ist klar: Diese Entscheidungen müssen wir selbst treffen. Keine Technologie wird uns davor retten. Und auch die Märkte werden uns nicht retten. Wir können uns, wie in den 1920ern und 1930ern, dazu entscheiden, die Herausforderungen, die vor uns liegen, zu ignorieren oder, wie in den 1940ern und 1950ern, Institutionen aufbauen, die uns dabei helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen und den Weg in eine neue ƒra des Friedens und des Wohlstands bereiten. Jetzt sind wir dran.